Die archäologische Untersuchung war aufgrund von zu erwartenden Bodeneingriffen im Zuge der Neugestaltung der Pfäfflinshofstraße notwendig geworden. Sie wurde nach Abbruch des bauarchäologisch erforschten Gebäudes durchgeführt. Das Ausgangsniveau bildete die dadurch entstandene moderne Oberfläche. Um die Verknüpfung der untersuchten, aufgehenden Bausubstanz mit den archäologischen Quellen zu gewährleisten, wurde auf eine Abplanierung moderner Schichten verzichtet.
Der Überprüfung dieser Beobachtung sowie der Frage nach dem Grund dieser so rasch aufeinanderfolgenden Bauvorgänge, insbesondere in Bezug auf das bauliche Verhältnis zu der in diesem Bereich verlaufenden Stadtmauer, galt das Hauptinteresse der archäologischen Untersuchung. Hinzu kamen die Fragen nach einer möglichen Vorgängerbebauung sowie nach archäologischen Nachweisen für die einstige Nutzung des Gebäudes. Die Lage im historischen Gerberviertel mit dem seit dem Ende des 13. Jh. in schriftlichen Quellen belegten Gerberhandwerk ließ eine Gerberei vermuten, von der sich jedoch am erhaltenen Gebäude keine Spuren fanden.
Abb. 1: Ansicht der Grabungsfläche im Gebäude
Das älteste bauliche Zeugnis stellen Teile der nach Ausweis der
Schriftquellen in der ersten Hälfte des 13. Jh. errichteten Stadtmauer
dar, welche im Westen der Grabungsfläche angeschnitten wurde
(Abb. 4 u. 5). Das Nord-Süd- gerichtete Mauerfundament ist in die
schon erwähnte Kulturschicht eingetieft. Das Ausgangsniveau für
die Errichtung konnte nicht erfaßt werden, da es durch den Einbau von
Gerberfässern und Sickergruben am Ende des 19. Jh. stark gestört
war. Das Mauerfundament wurde als Zweischalenmauerwerk errichtet.
Davon konnte nur die östliche Mauerschale aus großen, grob
zubehauenen Sandsteinen in einer Breite von bis zu 0,8 m freigelegt werden.
Bemerkenswert ist, daß die Mauer im südwestlichen Teil einen
deutlichen Knick nach Westen hin aufweist, wie es auch der Katasterplan von
1842 (Abb. 1) im Gegensatz zum Urkataster von 1820 wiedergibt.
Unmittelbar nach Errichtung der Stadtmauer scheint die Parzelle
zunächst noch nicht überbaut worden zu sein.
Eine Nutzung belegt jedoch der im nördlichen Hofbereich angeschnittene
Überrest einer Filterzisterne, zu der eine mit ausgewaschenen Kieseln
und Hohlziegeln verfüllte Ausschachtung gehört.
Von einem ersten Gebäude konnten die erhaltenen Umfassungswände
des Kellers, die massive Südwand sowie größere Teile des
westlichen Schwellfundamentes nachgewiesen werden.
Während sich die Flucht der ehemals aufgehenden Ostwand mit großer
Wahrscheinlichkeit mit dem Verlauf der Kellerostwand deckte, kann über
die Lage der nördlichen Außenwand des Gebäudes keine
konkrete Aussage gemacht werden. Denkbar wäre aber auch hier ein
Wandverlauf in der Flucht der Kellerwand, wodurch sich ein
außerordentlich langgestreckter, leicht trapezförmiger
Grundriß von etwa 7,6-9,2 m Breite und 4 m Länge ergeben
würde.
Die etwa 0,5 m starken Wände des ca. 4,0 x 3,5 m großen Kellers
bestehen aus grob zubearbeiteten Kalksandsteinen, die in
regelmäßigen Lagen gegen die Grubenwandungen geschichtet wurden.
Der dabei verwendete, graue Lehmmörtel diente gleichzeitig zur
Abdichtung der Kellerwände gegen das feuchte Erdreich. Die Westwand des
ursprünglich flach gedeckten Kellers bildete dabei einen etwa 0,3 m aus
dem Boden aufragenden Schwellsockel für eine darauf verlegte Schwelle
oder Mauerlatte, von der sich Reste nachweisen ließen. Das Schwellholz
war in eine Aussparung in der massiven Südwand eingelassen.
Den westlichen Abschluß des ältesten Baus bildete ein etwa 0,4 m
breites Schwellfundament, das unmittelbar an die Stadtmauer gesetzt wurde.
Der aus unregelmäßig ohne Mörtelbindung aufgeschichteten,
unbearbeiteten Steinen gebildete Schwellsockel ist an seinem nördlichen
Ende punktfundamentartig auf 0,7 m Breite verstärkt, was für die
Annahme eines kräftigen Wandständers an dieser Stelle spricht.
Die Südwestecke und damit die Anbindung an die massive Südwand
wurde beim modernen Einbau einer Sickergrube ausgebrochen. Die Entstehung
des ältesten Hauses fällt in den Zeitraum zwischen Errichtung
der Stadtmauer und der 1337 errichteten Nordwand. Zwei dendrochronologisch
auf 1289/90 datierte Bauhölzer, die sich im aufgehenden Gebäude
in Zweitverwendung vorfanden, könnten demnach zu dem ältesten Bau
gehört haben.
Von einem Umbau des Ursprungsbaus zeugt das Schwellfundament der 1337
errichteten Nordwand. Das Fundament besteht aus in regelmäßigen
Lagen mit Lehmmörtelbindung aufgeschichteten, grob bearbeiteten
Kalksandsteinen. Es ist gegen das nördliche Ende des älteren
Westfundamentes gesetzt und stößt westlich gegen das
Stadtmauerfundament.
Verknüpft man den archäologischen Befund mit den Ergebnissen der
Bauaufnahme, so ergibt sich ein 1337 von Norden her an das bestehende Haus
angefügter Bau, der ebenfalls unmittelbar an die Stadtmauer gesetzt
wurde. Aus der Bauaufnahme geht jedoch hervor, daß auch das auf der
untersuchten Parzelle stehende Haus im Zuge dieser Baumaßnahme
verändert worden sein muß.
Möglicherweise ist dieser baulichen Veränderung ein ungefähr
in der Hausmitte Ost-West-verlaufendes Fundament einer Innenwand zuzuweisen
. Der nur 0,25-0,3 m breite aus zwei trocken aufgeschichteten
Steinlagen gebildete Fundamentstreifen ist gegen das Westfundament des
ältesten Baus gesetzt. An seinem östlichen Ende greift das
Fundament in die oberste Steinlage der Kellerwestwand ein.
Die Anbindungen wurden jeweils mit festem, hellem Kalkmörtel
verstärkt. Die punktfundamentartigen Mörtelverstärkungen
lassen jeweils auf einen Ständer des aufgehenden Fachwerkgerüstes
und damit auf die Binnengliederung des Erdgeschosses schließen.
Abb. 2: Keller (Nordwand) 13. und 16./17. Jh.
Nur 27 Jahre nach dieser Baumaßnahme erfolgte ein Neubau auf dem
Grundstück von Pfäfflinshofstr. 4. Dabei wurde die bis dahin
bestehende Anbindung des Gebäudes an die Stadtmauer gelöst und die
neue Westwand in ca. 1,3-1,5 m Entfernung zur Stadtmauer errichtet
(Abb. 4 u. 5). Die massive Südwand wie auch die Nordwand von 1337
wurden dabei um diese Länge gekürzt. Das Fachwerk der neuen
Rückwand wurde über einer mit 1,2-1,3 m Höhe auffallend hohen,
0,4-0,6 m starken Schwellmauer aufgeschlagen, welche aus
Stabilitätsgründen in den unteren Steinlagen breiter angelegt
wurde. Der entstandene Zwischenraum zwischen Gebäude und Stadtmauer
wurde durch Aufplanieren eingeebnet und erhielt eine kräftige
Kiesauflage, die nahezu im gesamten Hinterhofbereich erfaßt werden
konnte. Das infolge der Aufplanierungen im Hofbereich nun erheblich tiefer
liegende Fußbodenniveau im Innern des Gebäudes wurde dagegen
weitgehend beibehalten. Ebenso wurde der flach gedeckte Keller fast
unverändert in das neue Gebäude übernommen. In dem erheblichen
Unterschied von innerem zu äußerem Fußbodenniveau ist die
Erklärung für die erstaunliche Höhe des westlichen
Schwellfundamentes zu suchen, welches das Schwellholz zum Schutz vor
Feuchtigkeit ein Stück aus dem im Hofbereich aufplanierten Erd- und
Schuttmaterial anheben mußte.
Im 16./17. Jh. erfolgte ein Umbau des Kellers durch Einwölbung mit einer
flachen Nord-Süd-orientierten Tonne. Als Widerlager dienten die
Kellerwest- und -ostwand, deren innere Mauerschale dazu im oberen
Wandbereich ausgebrochen wurde.
In keiner der mittelalterlichen Bauphasen konnten Spuren der einstigen Nutzung des Gebäudes gefunden werden. Erst für die Zeit nach der Einwölbung des Kellers kann aufgrund der Funde von Hornzapfen, Resten ungelöschten Kalkes, welcher häufig zum Enthaaren von Fellen benutzt wurde, sowie dem offenbar durch organische Einwirkung rot bis grünlichgelb verfärbtem Kiesboden die Tätigkeit eines Gerbers oder gerbenden Schuhmachers vermutet werden. Einen sicheren Anhaltspunkt für Gerbertätigkeit bieten schließlich zwei jüngere Gruben im Innern des Gebäudes, die sich in der Südwestecke eingetieft erhalten hatten. In der einen Grube fand sich ein kleiner Holzdaubenbottich, in der anderen war ein Holzdaubenfaß eingelassen. Beide Behälter erhielten einen wasserundurchlässigen Lehmmantel. Eindeutig zuweisbares Fundmaterial wie z.B. Lederreste konnten jedoch nicht geborgen werden.
Abb. 3: Gerberfaß 19./20. Jh.
Der umfangreichste Fundkomplex der Grabung dagegen entstammt einer der eindeutig in Zusammenhang mit den Baumaßnahmen von 1364 eingebrachten Planierschichten im Hofbereich, was für die zeitliche Einordung der Keramik von großer Bedeutung ist. Unter den zahlreichen Funden findet sich ein differenziertes Spektrum spätmittelalterlicher Haushaltskeramik, darunter Dreifußpfannen, Töpfe, Topfdeckel, Flüssigkeitsbehälter, Gluthauben und Lampenschälchen (Abb. 6). Glasur tritt sehr selten auf und auch nur an der Gefäßinnenseite oder am Gefäßrand.Unter den verhältnismäßig wenigen Bruchstücken von Ofenkeramik dominieren Teile von runden Blattnapfkacheln, sowie viereckigen Schüsselkacheln. Mehrere Fragmente gehören zu einer grün glasierten Nischenkachel, die zu den Spitzenprodukten spätmittelalterlicher Ofenkeramik zu zählen ist. Zum Fundspektrum gehören auch mehrere Bruchstücke von Nuppengläsern, einige Eisennägel sowie zahlreiche Knochen aus Schlachtabfällen, darunter wiederum Hornzapfen.
Von besonderer Bedeutung sind jedoch die baulichen Vorgänge im Zuge des
Neubaus des Hauses Pfäfflinshofstraße 4 im Jahre 1364.
Das zunächst unmittelbar an die Stadtmauer angebaute Haus wurde
offensichtlich zur Schaffung eines schmalen Zwischenraumes, der als Durchgang
genutzt werden konnte, von der Stadtmauer abgetrennt. Die Einrichtung eines
sogenannten "Rondenweges" entlang der Stadtmauer, welcher einen
uneingeschränkten Zugang für Mensch und Material und damit eine
bessere Verteidigungsfähigkeit der Stadtbefestigung gewährleistete,
ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine obrigkeitliche
Maßnahme zurückzuführen. Anlaß hierfür gab es
genug hinsichtlich der langanhaltenden Spannungen zwischen der Reichstadt
Reutlingen und den Württembergischen Herzögen, in deren Besitz die ortsnahe Burg Achalm war. Die daraus resultierende, ständige Bedrohung der
Stadt fand nur wenig später im sogenannten Städtekrieg 1377 mit der
Belagerung Reutlingens ihren Höhepunkt.
Die in Zusammenarbeit von Bauforschung und Archäologie gewonnenen
Ergebnisse sollen im Rahmen einer für 1998 geplanten Ausstellung des
Heimatmuseums Reutlingen der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Es ist zu hoffen, daß die beispielhaft unbürokratische
Zusammenarbeit verschiedenster Institutionen bei der Durchführung
dieses Projekts und das weit über das normale Maß hinausgehende
Engagement der Studierenden hierbei eine Grundlage für weitere
archäologische und baugeschichtliche Forschungen bilden werden.
B. Scholkmann, T. Marstaller und Teilnehmer des Praktikums